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Entstehung des Schiefen Turms

In den 90er-Jahren habe ich den Schiefen Turm zum ersten Mal gesehen. Damals durfte man ihn wegen umfangreicher Renovierungsarbeiten nicht betreten – faszinierend fand ich das Gebäude gleichwohl, und zum ersten Mal hatte ich die Idee, einen Roman über dessen Entstehung zu schreiben.
Diese verwarf ich einige Jahre später wieder, nachdem ich mich näher mit der Thematik beschäftigt hatte. Da sich die Bauzeit des Turm über zweihundert Jahre erschreckte, erschien es mir unmöglich, sie mit einer fiktiven Geschichte zu verknüpfen.
Das Thema gestreift habe ich jedoch immer wieder, so auch während meiner Recherchen für meinen Roman „Grimaldi – Der Fluch des Felsens“. Damals las ich auch manches Buch über Pisa, jener Stadt, die im 11. Jahrhundert zu einer der mächtigsten Seemächte im westlichen Mittelmeer aufstieg, rund um das Jahr 1200 als größte und fortschrittlichste Stadt der Toskana galt, von Genua aber nach und nach in den Schatten gestellt wurde.
Nicht nur, dass die Faszination für den „Schiefen Turm“ wieder erwachte – nun, da ich mehr über die Geschichte der Stadt und insbesondere der berühmten Familie Gherardesca erfuhr, reifte eine Plot, mit dem ich die vielen Bauphasen des Turms verknüpfen konnte.

In meinem Roman habe ich versucht, den historischen Tatsachen stets gerecht zu werden. Wenn man sich mit der Geschichte des Campanile befasst, gib es allerdings viele dunkle Punkte, Ungewissheiten und Zweifel, deren Klärung aufgrund des Mangels an offiziellen Dokumenten unmöglich ist. Dass die Bauzeit insgesamt etwa 200 Jahr umfasste, ist gesichert, jedoch umstritten, wann genau welche Bauphase stattgefunden hatte. Schon das Datum der Grundsteinlegung lässt sich nicht exakt festlegen: In den Urkunden wird das Jahr 1174 genannt. Da nach dem damaligen Pisaner Kalender das neue Jahr bereits am 25. März begann, war aber wohl das Jahr 1173 gemeint.
Es steht fest, dass die ersten drei bis vier Geschosse relativ zügig errichtet wurden – nicht sicher ist, wer als Architekt und Bauherr fungierte. Die steinerne Tafel im Engangebereichs führt Bonanno Pisano an, in anderen Quellen werden aber auch Guglielmo aus Innsbruck, Diotisalvi, Biduino odr Gerardo die Gerardo genannt. Wahrscheinlich war in keiner Bauphase nur ein einziger Künstler am Werk, sondern stets der herangezogen hatte, der gerade keine anderen Aufträge zu erfüllen hatte. Rund um das Jahr 1178 merkte man jedenfalls die beginnende Neigung – offenbar bedingt durch den weichen Untergrund -, weswegen man den Bau vorerst ruhen ließ.
Anfang des 13. Jahrhunderts erhielt der Campanile eine vorläufige Kuppel, die allerdings wieder abgetragen wurde, als weitere Stockwerke in Angriff genommen wurden. Dass diesmal der berühmte Architekt Simone di Giovanni die Bauarbeiten leitete und versuchte, di Schiefstellung etwas zu korrigieren, ist gewiss, fraglich jedoch, wann genau diese aRbeiten stattfanden. Der Zeitraum zwischen 1272 und 1278 wäre ebenso denkbar wie der zwischen 1278 und 1284. Manche Forscher gehen so weit zu behaupten, dass selbst die Schlacht von Meloria 1284 den Bauarbeiten kein Ende setzen konnte, sondern sich diese bis 1288 fortsetzten. In meinem Roman habe ich mich für die mittlere Variante entschieden. Ob auch Nicola und Giovanni Pisano, die zeitgleich am Baptisterium arbeiteten, irgendwas mit dem Bau vom Turm zu tun haben, ist nicht erwiesen, es gibt jedoch einen Urkundenvermerk, wonach sich Giovani Pisano im Jahr 1298 mit der Statik des Gebäudes auseinandergesetzt hat, womöglich um schon damals eine Glockenstube zu planen.
Ob der Turm unter Simone sämtlich Loggienreihen – also derer sechs – erhalten hat oder nur fünf, bleibt ebenfalls Spekulation. Es besteht die Möglich, dass – wie es in meinem Roman der Fall ist – das letzte Stockwerk erst ab dem Jahr 1316 gebaut wurde, also während der Herrschaft von Gaddo della Gherardesca.
Wann genau der Bau der Glockenstube – ob schon den 50er-Jahren des 14. Jahrhunderts oder erst 137o – begonnen hat ist wieder mal ungeklärt, im Jahr 1373 dürfte sie jedenfalls fertig gestellt worden sein. Ein Fresko von Antonio Veneziano, das etwa 1384 entstanden ist und leider im 2. Weltkrieg zerstört wurde, zeigt jedenfalls den fertigen Turm.
Dieses Fresko widerspricht übrigens der These, wonach der Turm nicht schon im Mittelalter, sondern erst im Laufe der Jahrhunderte seine Schiefstellung erhielt. Ebenfalls reine Legendenbildung ist, dass der Turm absichtlich schief gebaut wurde, wie in der Forschung des19. Jahrhundert mal behauptet wurde. Was Touristen ebenfalls häufig zu hören bekommen ist die Behauptung, dass Galileo Galilei, ein berühmter Sohn der Stadt, auf dem Turm seine Versuche zur Schwerkraft machte – aber dafür gibt es nicht den geringsten Beweis.
In der Lünette über den Turm steht übrigens wirklich eine Madonna mit Kind, wie sie in meinem Roman von meiner fiktiven Figur Elia anfertigt wird. Diese wurde aber erst im 15. Jahrhundert von Francesco oder Andrea Guardi hergestellt.