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Von der Reformpädagogik zur Schule unterm Hakenkreuz

Ich bin nicht nur das Kind von zwei Gymnasiallehrern, sondern habe einst selber Lehramt studiert. Und obwohl ich diesen Beruf nie ausgeübt habe, hat es mich schon seit langem gereizt, einen Roman über eine Lehrerin zu schreiben.

Was mich bei ersten Recherchen besonders faszinierte, war die – von massiven Gegensätzen geprägte – Zeit der 30er-Jahre: Auf den Siegeszug der Reformpädagogik mit nicht nur damals bahnbrechenden, auch heute noch ungemein modern anmutenden Ideen folgte die finstere Zeit des Nationalsozialismus mit einer radikalen Abkehr von allen humanistischen Bildungsidealen.

Die Reformpädagogik erlebte ihre Hochzeit in den 20-Jahren, wo ihre grundlegenden Ideen an vielen sogenannten Versuchsschulen, von denen es besonders viele in Berlin und Hamburg gab, – mit Enthusiasmus umgesetzt wurden. Stand der Unterricht in der Kaiserzeit unter dem Motto, „Hände falten, Schnabel halten, den Kopf nicht drehen und den Lehrer ansehen“, wurde der Unterricht in der Weimarer Republik rundum erneuert: Mädchen und Jungen lernten nun gemeinsam – die sogenannte Koedukation gehört zu den Grundprinzipien der Reformpädagogik -, oft sogar an der frischen Luft, duzten manchmal ihre Lehrer, erarbeiteten den Stoff mit Kopf, Herz und Hand. Hoch angesehen waren fächerübergreifende Projekte, grundsätzlich sollten mehre Unterrichteinheiten zusammengelegt werden, anstatt auf 45 Minuten begrenzt zu sein, die Kind saßen nicht immer auf Schulbänken, sondern of im Stuhlkreis. Praktische Experimente waren die Regel – so gehörte die Zucht von Brieftauben ebenso zum Schulalltag, wie die Beantwortung der Frage: Wie schafft man ein Klavier ins höchste Stockwerk eines Wolkenkratzers.

Dahinter steckte ein ganz bestimmtes Menschenbild, das von einer tiefen Liebe zum Kind geprägt war, dem Glaube an seine freie Entwicklung und der Betonung einer ganzheitliche Erziehung. Lerninhalte waren demnach nichts, was man – u.U. sogar gewaltsam – eintrichtern müsse, vielmehr schlummern im Kind Talente und Fähigkeiten, die es behutsam, geduldig, in einer freundlichen Atmosphäre zum Leben zu erwecken galt. Mit Bedacht wählte man darum selbst die Farben der Klassenzimmer – nämlich möglichst helle und warme. In manchen Schulen wurde sogar auf Noten und erst recht das Sitzenbleiben verzichtet. Ebenso wichtig war auch das Motto „Bildung für alle“, weswegen einem bestimmten Prozentsatz von Kindern aus Arbeiterfamilien das Schulgeld erlassen wurde.

Was sich ebenfalls in der Weimarer Republik änderte: Nachdem es seit 1905 für Frauen die Möglichkeit der akademischen Ausbildung zur Oberlehrerin gab, waren in den 20er-Jahren Gymnasiallehrerinnen keine Ausnahmeerscheinung mehr, wenngleich in vielerlei Hinsicht immer noch schlechter gestellt männliche Kollegen. Das sogenannte Lehrerinnenzölibat, wonach eine Lehrerin am Tag ihrer Eheschließung ihre Anstellung verlor, wurde zwar abgeschafft – in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit kam es quasi durch die Hintertür doch zum Einsatz, weil die verheirateten Lehrerinnen stets als erstes gekündigt wurden.

Ein jähes Ende fanden die reformpädagogischen Schulversuche, als die nationalsozialistische Bildungspolitik das Gegenteil von all ihren Prinzipien diktierte.

Nicht nur, dass sämtliche demokratische, liberale und jüdische Lehrer von nun an unter massiven Repressalien litten. Eine menschen- und kinderfreundliche Pädagogik, die sich nicht Selbstzucht, Kampf- und Opferbereitschaft zum Ziel setzt, sondern die Entfaltung und Förderung des je eigenen Potenzials und ein gewaltfreies, geschlechterübergreifendes Miteinander, wurde von den Nazis als „geistige Päderastie“ diskreditiert. Dass auf den Rohrstock verzichtet werden soll, galt gar als „erschütterndes Zeichen marxistischer Verrohung“, nicht zuletzt, weil der einzige Daseinszweck von Schulen darin bestand, die Jugend dem „gesunden Volkskörper einzuverleiben“. Klassensprecher wurden ebenso abgeschafft wie Elternbeiräte und Koedukation, Abschreiben war erlaubt, weil das dem „Kameradschaftsgeist“ diene, Hitlerjungen sollten grundsätzlich mit besseren Noten bedacht werden. Jüdische Kinder, sofern sie nicht ohnehin von der Schule ausgeschlossen wurden, nahm der pflichtbewusste nationalsozialistische Lehrer dagegen nicht mehr dran, wenn sie sich meldeten, und erst recht lobte er sie nicht. Auf Klassenfahrten durften sie ohnehin nicht mehr mit, weil es ein Beherbergungsverbot für Juden gab.

Nicht nur, dass neue Fächer wie Rassenkunde hinzukamen – die Inhalte der einzelnen Fächer wurden strikt „gesäubert“: Albert Einsteins Relativitätstheorie tilgte man aus den Physikbüchern, denn nur die „arische Physik“ galt als die wahre, gegenüber dem „jüdischen Geschwurbel“. Bei Mathematiktests mussten Schüler berechnen, wie viel Häuser für Familien man bauen könnte, wenn man auf die Versorgung Geisteskranker verzichtete, in Biologie wurde der Fokus auf jene Pflanzen und Tiere gelegt, die sich gegen Schmarotzer zu Wehr setzen. Im Religionsunterricht sollte das Alte Testament – das „Buch, in dem jüdische Zuhältergeschichten erzählt werden“ – nicht länger behandelt, im Geschichtsunterricht keine Zeit mit fremden Völkern verschwendet werden – „Will man die Kinder zu Römern und Griechen erziehen oder Deutschen?“ -, im Zentrum stand dagegen der „heroische Freiheitskampf des deutschen Volks“. Im Laufe des Krieges wurden Lehrstoff sowie Schuljahr immer weiter gekürzt, denn als der wahre Lehrmeister würde sich ja doch der Krieg erweisen.

Viele Lehrer erwiesen sich als opportunistisch und regimetreu, aber aber nicht alle verrieten ihre Überzeugungen und wurden zu Handlangern des Regimes. Manche leisteten Widerstand und starben im KZ, andere blieben in diesen Lagern selbst unter unmenschlichen Bedingungen Lehrer: Ob nun ein Franz Bobzien im KZ Sachsenhausen oder ein Hermann Wilhelm Hammann im KZ Buchenwald – sie gründeten illegalen Lagerschulen und retteten auf diese Weise nicht nur das Leben vieler Kinder und Jugendlicher, auch ihr Menschenbild.

Die berühmte Hamburger Lehrerin und Reformpädagogin Erna Stahl gehörte zu jenen, die am humanistischen Bildungsideal fest- und mit der Kritik an den Nazis nie hinter dem Berg hielten. Der von ihr initiierte Lesekreis in den 30er-Jahren schuf sozusagen die geistige Grundlage für die Hamburger Weiße Rose.