Hamburg war mir auch vor der Recherche an meinem Roman nicht fremd, ich habe schon mehrere Kurztrips hierher unternommen. Aber so intensiv wie während meiner Recherchereise habe ich die Hansestadt noch nicht erforscht, und ich habe jede Menge neuer Orte kennengelernt.
Im Folgenden präsentiere ich die einzelnen Stationen dieser Reise.
Das Zeugnis einer Gefangenen berührte mich besonders: „Man war auf der Zelle völlig isoliert. Einmal war eine Fliege bei mir in der Zelle, die mich von meinen Grübeleien abgelenkt hat. Ich habe sie beobachtet, wie sie von einer Ecke in die andre geflogen ist, und bin ihr hinterher gegangen. Das war etwas, was lebte, was bei mir in der Zelle war, was sich bewegte, was um mich flog. Und die Fliege war etwas, was von draußen gekommen war. Sie war ein kleines Tier, das aus dem Zellenfenster wieder raus fliegen konnte in die Freiheit.“
Im „Garten der Frauen“ auf dem Ohlsdorfer Friedhof haben viele bedeutende Hamburgerinnen ihre letzte Ruhestätte gefunden oder wird ihrer gedacht. Eine von ihnen ist Margaretha Rothe – in der Aushöhlung ihres Erinnerungssteins hängt eine aus Metall geformte Schwalbe. Sie symbolisiert ein gefaltetes Flugblatt der Geschwister Scholl, das Margaretha Rothe heimlich in Hamburg verteilt hat.
Vor dem ganz normales Mehrfamilienhaus in der Riststraße 3 erinnert nichts an seine einstige Bewohnerin, und doch hat diese genau an diesem Ort auf ihre ganz eigene Art Widerstand gegen das NS-Regime geleistet hat. Das lebte nämlich Erna Stahl, jene Lehrerin an der Hamburger Lichtwarkschule, die mit ihrem geheimen Lesekreis in ihrer Privatwohnung den Grundstein für die „Hamburger Weiße Rose“ gelegt hat.
Beim Rundgang durch die beiden Viertel stoße ich auf viele schreckliche Orte (den Platz der Bücherverbrennung im Mai 1933, die vielen, vielen Stolpersteine im Grindelviertel, oft alle fünf bis zehn Schritte, viele an Familien mit kleinen Kindern erinnernd, den Platz der Jüdischen Deportierten an der Moorweidenstraße). Aber dazwischen gibt es auch Lichtfunken wie jene Inschrift am früheren Bornplatz, wo einst die Synagoge stand: „Mir veln zey iberlebn.“
Gleich gegenüber befindet sich übrigens die Talmud-Tora-Schule, die in meinem Buch mehrmals Erwähnung findet.
Hier gab es viele hilfreiche Exponate zu entdecken, (z.B. ein Fahrplan für die Hamburger Hochbahnen aus dem Jahr 1930), faszinierende (z.B. eine Addiermaschine aus den 20er-Jahren) und erschreckende (z.B. ein „Gasjäckchen“ für Kinder).
Meine „Alsterschule“ ist zwar rein fiktiv, aber ich habe sie gedanklich an einem sehr konkreten Ort – der Alsterchaussee – errichtet, und vor dort ist es nur wenige Schritte ans idyllische Alsterufer.
Ich war auf Wohnungssuche. Nein, nicht für mich, sondern für meine Protagonisten.
Emil sollte eigentlich in der Alten Rabenstraße wohnen, besteht nun aber darauf, dass ich ihn in der Bieberstraße leben lasse. Sein Freund und Kollege Levi gehört wiederum nicht in den Grindelweg, sondern in die Rappstraße. Und meine weibliche Hauptfigur Felicitas, die ich gegenüber von St. Andreas einquartieren wollte, bevorzugt St. Johannis (ein Wunsch, dem ich angesichts der berührenden Inschrift auf dieser Kirche gerne stattgebe).
Das Curiohaus war der Sitz des Nationalsozialistischen Lehrerbunds, folglich ein Ort, wo mein Protagonist Emil Tiedemann ein und aus geht. Für eine weitere Szene suchte ich einen Park in der Nähe des Grindelviertels – und fand das Paradies „Planten un Blomen“.
1933 wurde der Buchhandel gleichgeschaltet. Viele Buchhändler fügten sich dem, entsorgten pflichtbewusst verbotene Literatur und stellten Propagandamachwerke in ihre Schaufenster. Doch es gab unter den Buchhändlern auch überzeugte Widerstandskämpfer, hier in Hamburg waren das z.B. Felix Jud, dessen Buchhandlung bis heute existiert (wenn auch nicht am ursprünglichen Ort), oder Reinhold Meyer von der „Agentur des Rauhen Hauses“. Letztere gibt es leider nicht mehr, aber ein Schild am einstigen Standort – Jungfernstieg 50 – erinnert daran, dass hier Geschichte geschrieben wurde.
Ein bewegender Ort ist die ehemalige Kirche St. Nikolai – ein Mahnmal für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft zwischen 1933 und 1945. Bei den Bombenangriffen im Juli 1943 („Operation Gomorrha“) wurde sie schwer beschädigt und danach nie wieder aufgebaut: Neben dem Turm sind nur noch ein Teil der südlichen Außenmauer und die Wände des Chors erhalten.
Mein Roman spielt fast ausschließlich in Hamburg – im zweiten Teil gibt es jedoch auch einige Szenen, die im KZ Sachsenhausen und im KZ Buchenwald angesiedelt werden.
Die Gedenkstätte von Buchenwald habe ich schon zu einem Zeitpunkt besucht, da ich noch nicht wusste, dass es hierhin einen Protagonisten verschlagen würde.
Ich betrat sie damals mit den Worten meines Philosophieprofessors im Ohr: „Weimar ist der Geburtsort der Weimarer Klassik mit ihrem Humanismus, mit ihrem Glauben, dass der Mensch erziehbar ist, mit ihren Idealen des Guten, Wahren und Schönen. Aber vergessen Sie nie, dass das KZ Buchenwald nur 10 km entfernt von Weimar lag. Man darf fortan das eine nicht ohne das andere denken.“
Auch ich bin überzeugt, dass zum „Freude schöner Götterfunken“ unweigerlich auch „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ gehört. Ich war allerdings nicht lange vor Ort, denn kurz vor meiner Abfahrt habe ich erfahren, dass die „Patrioten für Deutschland“ am Nachmittag einen Aufmarsch gegen die „Islamisierung des Abendlandes“ planen. Einen Großteil der Zeit, die ich eigentlich für Buchenwald vorgesehen hatte, habe ich darum auf der Gegendemonstration verbracht. Dass deren TeilnehmerInnen zahlenmäßig den „Patrioten“ bei weitem überlegen waren (nach meiner Schätzung etwa 200 gegen 20) und ich in Buchenwald überdies so vielen Jugendgruppen begegnet bin, gibt ein klein wenig den Glauben an das Gute, Wahre und Schöne zurück.