Als Kind und Jugendliche habe ich stets einen Teil meiner Sommerferien bei meinen Großeltern im steirischen Niklasdorf verbracht. Während meine Großmutter in der Küche zugange war, um die üppige Ernte aus ihrem Garten zu verarbeiten – aus Äpfeln wurde Mus, aus Ribiseln Saft, aus Himbeeren Marmelade –, las ich ihr oft aus meinen historischen Sachbüchern vor, die ich damals schon verschlungen habe, vorzugsweise über Persönlichkeiten wie Kaiserin Maria Theresia. Geschichte hat auch meine Großmutter immer interessiert, und trotz fehlender Schulbildung verfügte sie über einen außergewöhnlichen Wissensschatz. Als ich älter wurde, begannen sich die Gespräche dann immer häufiger um ihre eigene Geschichte zu drehen.
Und so erfuhr ich recht früh von der Zeit, die meine Großmutter in Niederschlesien verbracht hat, und von ihrer abenteuerlichen Flucht mit ihrer neugeborenen Tochter – meiner Mutter -, als im Winter 45 die russische Front näherrückte. Während sie jedoch über die Gefahren und das Grauen der letzten Kriegstage ziemlich offen gesprochen hat, auch über die Ablehnung des Nationalsozialismus, die die meisten Familienmitglieder teilten, gab es in der Familiengeschichte einen blinden Fleck, ein Tabu, an das niemand rührte. Anders als sie hat es ihr erster Mann Karl – mein Großvater – nämlich nicht mehr aus Hirschberg geschafft, stattdessen wurde er, der Feinemchaniker, der in Niederschlesien im Flugzeugbau arbeitete, nach Berlin eingezogen und fiel dort in den letzten Kriegstagen.
Meine Großmutter heiratete nach dem Krieg Karls Bruder Friedrich – und fortan wurde kaum mehr über Karl gesprochen – vordergründig, um den Familienfrieden zu wahren, insgeheim aber wohl auch, um Schuldgefühle zu betäuben. Die plagten meine Großmutter nämlich zeitlebens, obwohl sie sie lange Zeit nicht artikuliert hatte. Erst als sie älter wurde, brach manchmal die Wahrheit aus ihr heraus. Damals erfuhr ich, dass mein vermeintlicher Großvater in Wahrheit mein Großonkel war, und weil ich damals schon leidenschaftliche Historikerin war, habe ich heimlich den Kleiderschrank durchforstet, um nach Zeugnissen der Vergangenheit zu stöbern und manch alten Brief in Sütterlinschrift mühsam zu entziffern.