Manche Romanideen spuken jahrelang im Kopf herum – so auch die, die diesem Roman zugrundeliegt: Die Geschichte zweier extrem unterschiedlicher Frauen, die vor ihren Verfolgern durch ein kriegsgebeuteltes Land fliehen müssen. Die eine ist im Überlebenskampf gestählt, bereit, notfalls zu töten, stark und geschickt. Die andere hingegen ist behütet aufgewachsen und entsprechend lebenszunerfahren, sehr sensibel und eigentlich zu gut für die Welt. Beide müssen über sich hinauswachsen und voneinander lernen, um zu überleben.
So entschieden ich diese Idee im Kopf weiterentwickelte, so unschlüssig war ich zunächst, was das Setting des Romans anbelangt – also Epoche und Land, wo er spielen sollte. In all den Jahren, da ich mit dem Stoff schwanger ging, habe ich mehrere Möglichkeiten durchgespielt: Zypern in einem vorchristlichen Jahrhundert war ebenso dabei wie Deutschland während des 30jährigen Krieges oder Burgund zur Völkerwanderungszeit.
Dass am Ende die Entscheidung für Nordfrankreich im 10. Jahrhundert fiel, also die Zeit, da Wikinger das Land besetzten und ein eigenes Reich, die spätere Normandie, etablierten, ist folgenden drei Umständen geschuldet: meiner Liebe für das Land, insbesondere seinem Norden, der zunehmenden Faszination für die Wikinger, die mit den Recherchen für das “Geständnis der Amme” begann, und einer Reise nach Norwegen, das sich für mich bald als Herkunftsland von Runa, einer meiner beiden Heldinnen, herauskristallisierte.
Nach ersten Recherchen stand fest, dass die zweite der beiden Frauen eine historische Figur sein würde – die Frankenprinzessin Gisla. Diese wurde von ihrem Vater, dem Karolingerkönig Karl dem Einfältigen, mit Rollo verheiratet – dem Anführer von “Nordmännern”, die schon seit Jahren den Norden des Frankenreichs heimsuchten. Um für Frieden zu sorgen, trat König Karl Rollo die Normandie als Lehen ab – im Gegenzug ließ dieser sich taufen. Besiegelt wurde das Bündnis mit besagter Heirat.
Als ich mich eingehender mit den Quellen beschäftigte, um mehr über diese Gisla zu erfahren, stieß ich jedoch auf mehr Lücken als auf konkrete Informationen. Nicht zuletzt aufgrund dieser mageren Quellenlage und der Tatsache, dass man über Gislas weiteres Leben nach 911 (dem Jahr, als König Karl den Friedensvertrag mit Rollo schloss) rein gar nichts mehr erfährt, bestehen berechtigte Zweifel daran, ob eine Heirat von Rollo und Gisla tatsächlich stattgefunden hat oder ob diese nicht vielmehr ins Reich der Legenden zu verweisen ist. Überdies lässt sich nicht einmal Gislas Existenz mit Sicherheit belegen.
Trotz dieses Mangels an Beweisen, konnte ich von dem Thema nicht lassen – zumal mir Gislas Schicksal plötzlich als äußerst beispielhaft erschien. So viele Frauen mussten in früheren Epochen ihr persönliches Lebensglück politischen Bündnissen opfern, wurden einstigen Erzfeinden ungefragt und ungewollt ins Ehebett gelegt und waren hinterher bestenfalls Fußnoten der Geschichte – wenn sie nicht überhaupt völlig vergessen wurden. Dass die Figur dieser Gisla letztlich so rätselhaft bleiben, erscheint mir symptomatisch für einen Blick auf die Geschichte, in der die Taten von Kriegern mehr zählen als die Leiden von Frauen. Ich hingegen wollte den Blick gerade auf Letzteres lenken, nicht zuletzt, weil sich an der Gestalt von Gisla meines Erachtens ein Grundthema der Zeit herauskristallisiert, nämlich das, was man heutzutage wohl als Clash of Civilisations bezeichnen würde, als Kampf der Kulturen: Die nordisch-heidnische und die christlich-abendländische Kultur prallten im Nordfrankreich des 10. Jahrhundert gewaltsam aufeinander, ehe sie langsam zusammenwuchsen. Die Angehörigen dieser Kulturen mussten nicht selten mit dem schmerzhaften Verlust von Heimat und Identität zurechtkommen, und erst mühsam lernen, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen.
So habe ich aus den vielen Lücken, den vagen Vermutungen und den wenigen Behauptungen ein Konstrukt entwickelt, in dem sich meine ursprüngliche Idee gut entfalten konnte. Mit einem Buch ließ sich meine Faszination für das Thema jedoch nicht befriedigen. Rasch war klar, dass die Geschichte der frühen Normandie noch mehr potenzielle Romanprotagonisten bereit hält. “Tochter des Nordens” ist darum Auftakt einer Trilogie – in den weiteren Bänden werde ich von den Kindern und Kindeskindern meiner beiden Heldinnen erzählen.