Salome hatte kaum hochgeblickt, während sie durch Straßen spaziert waren − erst an Agrumen, Zitronenbäumen und Palmen entlang, später an Agaven, Rhododendren und Zedern. Der Weg wurde immer steiler, als sie hoch zur Altstadt stiegen, die einst rund um die Burg von San Remo erbaut worden war und La Pigna hieß. Hier erwartete sie ein Labyrinth aus Gässchen und Häusern, die am Felsen klebten wie Schwalbennester.
Endlich hob der den Blick, sah aber ziemlich misstrauisch zu den vielen Stützbögen über den Gassen zwischen den Häusern hoch, auf denen zahlreiche Tauben hockten. „Sie wurden als Schutz vor einem Erdbeben errichtet“, erklärte ihr Vater, „aber sieh nur, in welchem Zustand sie sind. Wenn die Erde bebt, brechen sie doch sofort in sich zusammen, und man wird erst von ihnen, danach von den Hausmauern erschlagen.“
Bald erreichten sie die Wallfahrtskirche Santuario di Nostra Signora della Costa, die über der Altstadt thronte, und nicht nur einen Blick über diese bot, auch auf das moderne San Remo mit seinen eleganten Alleen und Hotelpalästen, Gärten und Parks voller Tropenpflanzen. Und da war das Meer, das von hier oben einem glitzernden Tuch glich.
Aus “Riviera – Der Traum vom Meer”
Salome sah gerade genug von der Stadt, um festzustellen, worin sie San Remo glich und wodurch sie sich unterschied: Auch hier gab es manch breite, von Palmen gesäumte Allee, einen Hafen mit langer Mole und nicht weit davon entfernt zwei Strände − der eine aus grobem Kies, der andere feinsandig. Hier wie dort gab es Ruinen eines alten Forts und über die moderneren Viertel erhob sich eine sandsteinfarbige Altstadt. Doch in Menton hatte auf deutlich weniger Raum mehr barocker Prunk Platz zu finden. Verglichen mit dem größeren San Remo wirkte es nicht nur heimeliger, zudem ehrwürdiger, und es atmete mehr von jenem Reichtum, der nicht mit Münzen bemessen wird.
Aus “Riviera – Der Traum vom Meer”
Noch vor einem knappen Jahrhundert war Monaco der ärmste Staat Europas gewesen, von dessen steinigem Boden sich die längst geschrumpfte Bevölkerung kaum ernähren konnte. Doch aus der kargen Einöde war ein schillerndes Paradies geworden, seit das Fürstentum die Konzession für eine Spielbank erworben hatte – just zu der Zeit, da an sämtlichen anderen Orten der Riviera das Glücksspiel verboten worden war.
Aus “Riviera – Der Traum vom Meer”
Vor die Fenster des ersten Häuschens, an dem sie vorbeikamen, waren Bretter genagelt, wohl um die Bewohner vom kalten Mistral zu schützen. Nur eines stand offen und ließ an ein Gesicht denken, bei dem sich gerade mal ein Augenlid zur Hälfte hob. Das passte zu diesem Fischerdörfchen, das verschlafen wirkte. Hätte der Ort eine Stimme, er würde wohl weder Worte noch Gesang von sich geben, nur ein Gähnen.
Als sie immer tiefer ins Labyrinth der Gässchen vordrangen, kamen allerdings weitere Geräusche hinzu: das Gurren der Tauben auf jenen Steinbögen, die wie in der Altstadt von San Remo manche Häuser verbanden, das Quietschen der Räder eines hölzernen Karrens, den ein Mann schob. Das Gemüse darauf wollte er wohl auf dem nahen Marktplatz verkaufen, und da nicht alles Platz gefunden hatte, trug er Kränze aus Zwiebeln und grünen Pfefferschoten um den Hals. Es sang leise vor sich hin, und diese Töne fügten sich in die Lieder der Frauen ein, die sich über steinerne, holzüberdachte Waschbecken beugten.
Wenig später erreichten sie den Hafen. Der Farbton von der Häuserzeile dort ließ an Marzipan denken ließ, das man mit einem Tropfen Rote-Rüben-Saft gefärbt hatte und das in der Sonne gleich schmelzen würde. Eben brachte ein Lastkahn frische Fische – kleine Sardinen und Makrelen – die auf einer Matratze grün glänzender Algen zappelten, und die eine Gruppe Frauen entgegennahm, um sie auszunehmen und einzusalzen.
Aus “Riviera – Der Traum vom Meer”
Er schob den Wagen in ein belebteres Viertel in der Nähe des Hafens. Der Geruch von Fischen, die in der Ferne von Frauen ausgenommen wurden, sie ihm ebenso in die Nase wie der von heißem Fett, der den Restaurants entströmte. Dazwischen befanden sich jede Menge kleine Bars, in denen man vorzugsweise Sherry und Porto trank, doch er steuert nicht auf eine von diesen zu, sondern auf ein kleine Geschäft, wo, wie an so vielen Ecken und Plätzchen von Marseille, Spitzenware verkauft wurde.
Aus “Riviera – Der Weg in die Freiheit”
Obwohl der Wald sehr dicht stand, waren die Windräder der alten Mühle in der Nähe des Dörfchens Ramatuelle schon von Weitem zu sehen. Félix hatte keine Ahnung, warum man sie hier fernab jeglicher Siedlung errichtet hatte. An der höchsten Stelle des Hügels wehte der Mistral zwar besonders kalt, aber die Bäume schwächten seine Stärke ab. Als geheimer Treffpunkt taugte die Mühle jedenfalls ausgezeichnet, wurde sie doch seit Jahren nicht genutzt. Es waren sogar Legenden im Umlauf, wonach es hier spukte – gut möglich, dass ein Müller einmal in ein Mühlrad geraten war, nachdem er sich zuvor unglücklich verliebt hatte.
Aus “Riviera – Der Weg in die Freiheit”
Wenig später machte sich Salome auf den Weg nach Gassin, einem kleinen Bergdorf auf der Halbinsel von Saint-Tropez, dessen Gassen so eng waren wie die in Ramatuelle, aber nicht ganz so dunkel, feucht und verwunschen. Die Strecke von Saint-Tropez aus, von wo es größtenteils steil bergauf ging, mit dem Fahrrad zurückzulegen, war immer mühselig, doch nie hatte sie so geschwitzt wie an diesem Tag. Endlich war es geschafft, und die mächtigen Eichen- und Ahornbäumchen, die das Dorf begrenzten, begrüßten sie.
Aus “Riviera – Der Weg in die Freiheit”
Salome warf erstmals einen Blick aus dem Fenster des Café de la Marine. Als sie die Stadt erreicht hatten, war ihr nicht mehr aufgefallen als ein Hafen, der etwas größer als der von Saint-Tropez war und in dem nicht nur Fischerboote, auch ein paar Yachten und Segelboote ankerten, außerdem ein ockerfarbenes Häusermeer, aus dem mehrere Kirchtürme ragten. Ein Turm, der die Farbe hellen Sandes hatte, stand gleich neben dem Café. Nicht weit davon entfernt hatten Händler ein paar Stände aufgebaut, wo frischer Thunfisch, der auf einem Eisbeet ruhte und dessen schwarze Augen leer gen Himmel starrten, ebenso verkauft wurde wie frische Orangen und Käse. Am Ende der Strandpromenade wogten ein paar Palmen im Wind, dahinter blitzten die vielen Farben eines Karussells hervor, wo Kinder auf Giraffen oder Pferdekutschen fuhren. Das Meer war von jenem dunklen, schlickigen Grünton, den es an heißen Tagen auch vor Menton annahm, nur auf der Höhe des kleinen roten Leuchtturms am Ende der Hafenmole tanzten Schaumkronen.
Aus “Riviera – Der Traum vom Meer”
Nur das erste Stück des Weges war steil. Dort, wo er sich langsam in verschorftem Land verlor, auf dem kaum saftige Grashalme wuchsen, nur noch mehr dorniges Gestrüpp und an mancher Stelle die Erde aufklaffte, an mancher weißes Gestein lag, wurde es flacher.
Erstmals war die Klippe zu sehen, ganz oben von einem rostigen Rot, etwas tiefer von einem hellem Rosa, als wäre der Stein nicht tot, sondern würde frisches rotes Blut darunter pulsieren, weiter unten von einem strahlenden Weiß, das sich vom schwarzen Meer abhob.
Aus “Riviera – Der Traum vom Meer”
Obwohl es August war, hing hier eine Kälte fest, die aus den Jahren vor 1938 zu stammen schien, als dieser Ort ausschließlich der Herstellung von Backsteinen gedient hatte. Dann war die Fabrik von Les Milles geschlossen und von Militärbehörden beschlagnahmt worden, und was zuerst als Soldatenunterkunft gedient hatte, war schließlich zum Internierungslager geworden.
Sie kamen an Öfen vorbei, in denen einst Ziegel gebrannt worden waren. Ein paar, die wohl vergessen worden waren, lagerten noch hier. Die Menschen, an denen sie vorbeikamen, schienen auch vergessen worden zu sein. Manche lagen auf Pritschen, andere auf dem unebenen Fußboden aus gestampfter Erde. Das Stroh, das dort ausgestreut war, war faulig, Félix wollte gar nicht wissen, wie viele Flöhe, Wanzen, Läuse man sich dort holte. Die Internierten waren allerdings zu müde, die Hand zu heben und sich zu kratzen.
Mancher hatte sich seine Schlafstelle mit Ziegeln eingegrenzt, einer nutzte einen Koffer als Nachkästchen. Eine Brille lag darauf, auch ein Büchlein, beides von einer dicken Staubschicht bedeckt. Durchdringender Uringeruch kam aus einer Ecke. Hinter dem Verschlag vermutete Félix keine Toilette, höchstens ein Loch, in dem ein Metallkübel stand.
Aus “Riviera – Der Weg in die Freiheit”
Sie stiegen eine enge Treppe hoch zur Dachterrasse, von der sich ein Blick auf Collioure bot. Die Häuser wiesen sämtliche Töne von Rot auf – von hellem Rosa bis zu rostigem Braun −, und von diesem hoben sich die gräulichen Türme etlicher Kapellen und Kirchen ab. Die Boote im kleinen Fischerhafen waren noch bunter als die Häuser.
„Ach, ist es nicht hübsch hier?“, rief Félix in der Tonlage eines Reiseführers, der seine müde Truppe bei Laune zu halten hat. „Schauen Sie nur! Dort hinten ist die alte Königsburg, die zwei Hafenbuchten trennt. Die wiederum sind auf der einen Seite von einer weit ins Meer vorgeschobenen Wehrkirche begrenzt, deren Turm einst als Leuchtturm diente. Und drehen Sie sich um, genießen Sie den Blick auf die Weinberge. Glaubt man, den süßen Banyuls, der hier angebaut wird, nicht regelrecht riechen zu können?“
Aus “Riviera – Der Weg in die Freiheit”