Santiago de Chile und die Atacama-Wüste sind die Schauplätze meines Romans „Im Schatten des Feuerbaums“. Rein landschaftlich haben diese Orte wenig gemein: Die Hauptstadt Chiles liegt in einem fruchtbarem Tal inmitten der Anden, die im Sommer oft dunkelviolett erscheinen, im Winter weiß. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts prägten viele alte Bäume, Alleen und Promenaden das Stadtbild, maurische Brunnen, Portale und Passagen, prächtige Gebäude schließlich von italienischen und französischen Architekten. Etwa 330.000 Einwohner zählte die Stadt um 1910, die Zeit, in der mein Buch spielt – für damalige Verhältnisse sehr viel.
Die Atacama im Norden Chiles, die sich vom Río Loa bis zum Río Copiapo erstreckt, bot ungleich mehr Einsamkeit. Die Wüste, wo sich ockerfarbene Wüstenberge mit schneebedeckten Vulkanen abwechseln, Salzseen, die im Abendlicht Pastelltöne annehmen, und Geysire, die schwefelhaltiges Wasser spucken, ist die heißeste der Welt: In manchen Gebieten ist seit Menschengedenken kein Wasser gefallen, und das Licht so unerträglich hell, dass alle Farben verblassen. Vom Schweigen der Wüste, sagt man, dass es einen so verrückt machen kann, bis man nur noch im Kreis und schließlich umfällt.
Doch völlig menschenleer war die Atacama damals nicht: Denn in der Wüste, die nicht nur reich an Nitraten ist, sondern wo es das größte Kupfervorkommen der Welt gibt, lockten unzählige Minen, die wie Pilze aus dem Boden schossen, Ende des 19. Jahrhunderts Heerscharen von Arbeitern herbei: Innerhalb von zwanzig Jahren stieg die Bevölkerungszahl des „Gran Norte“ von 2.000 auf 234.000.
So unterschiedlich die Atacama und Santiago auch sein mögen – eines hatten sie damals gemeinsam: Ihre Gesellschaft war von einer extremen Kluft zwischen Arm und Reich gekennzeichnet, einem Klassensystem, das von den Zeitgenossen als ähnlich starr bezeichnet wird wie die „Kasten“ des Hinduismus. Auf der einen Seite gab es die „gente decente“, die – sich an Europa orientierende – Oberschicht, als dekadent und verwöhnt verschrien und schon mal als „La canalla dorada“ bezeichnet, als “vergoldete Kanaille” – auf der anderen Seite war das Land von extremer Armut geprägt.
Die reichen Menschen von Santiago vergnügten sich mit Opernbesuchen, Maskenbällen und Partys. Sie trugen französische Parfüms, englische Wolle und tanzten Charleston und Foxtrott. In den Elendsvierteln fand man bestenfalls Vergnügen bei Hahnenkämpfe und Prügeleien. Ansonsten war das Leben trist: Viele arbeiteten am Fließband in Fabriken – und das unter schrecklichen Bedingungen: Es gab kaum Licht, kein Wasser zu trinken, wenig Toiletten. Überdies lag die gesundheitliche Versorgung im Argen. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag bei 32 Jahren – und zählte zu den niedrigsten weltweit.
Die Reichen lebten den Hedonismus fast wie eine Religion. Im Sommer strömten so viele an die Strände, dass Eisenbahn fast nicht genügend Wägen hat. Während Europareisen, die vorzugsweise nach Frankreich führten, wurden 20.000 Dollar nur für Hotels ausgegeben.
Die Armen waren großteils Analphabeten: Um 1900 konnte nur ein Drittel der Bevölkerung lesen und schreiben. Die Straßen waren überfüllt von Landstreichern und Bettlern, und die Kriminalitätsrate extrem hoch: In kaum einem anderen Land gab es damals so viele Morde wie in Chile; die Spitäler waren von Menschen mit Messerwunden überfüllt. Zeitgenossen beklagten, dass die Verbrechen nicht einmal Nonnen aussparten.
In der Atacama-Wüste war die Kluft nicht weniger tief. Nach dem Salpeterkrieg (1879-1884) erwarben vor allem ausländische Investoren – die meisten von ihnen Spekulanten – die ehemals peruanischen „Oficinas“ und „Salitreros“. Die britische Kapitalkraft ermöglichte zwar technologische Verbesserungen und die Ausweitung der Produktionskapazitäten aus – doch die neuen englischen Aktiengesellschaften verdrängten kleinere Betriebe – und beuteten die Arbeiter gnadenlos aus.
Diese lebten in sogenannten „Schiffen“: Hunderte von Zimmern lagen in einer langen Reihen um einen Hof, wo sich Toiletten, Duschen und Waschplätze für die Kleidung fanden. Die Einrichtung war ärmlich und bestand großteils aus Dynamitkisten, die man als Regale, Kommode oder Nachttischchen verwendete. Man schlief auf einer sogenannten Büßerpritsche – Matratzen waren eher Ausnahmen. Bis zu acht Personen teilten sich eines der ständig verstaubten Zimmer, wo es nachts eiskalt und im Sommer brütend heiß war. Weder gab es fließendes Wasser noch eine Kanalisation. Die medizinische Versorgung war so gut wie nicht vorhanden, weswegen Unfälle meist tödlich waren.
Diese sozialen Ungerechtigkeiten brachten natürlich die Politiker auf den Plan- Pragmatiker ebenso wie Idealisten. Ob nun Liberale, Sozialisten, Anarchisten – sie alle suchten Antworten, und viele von ihnen stellten modern anmutende Forderung. Manche Strukturen konnten durchaus aufgebrochen werden: Erfolgreiche Vertreter aus dem Handel verdrängten z.B. die konservative, landbesitzende Oligarchie und setzen liberale Reformen durch. Doch viele Borhaben gerieten in die Mühlen der Tagespolitik, die von Verzögerungen und Taktieren geprägt war, und wurden nicht umgesetzt.
Politisch engagiert waren nicht zuletzt die Frauen – wie auch meine Protagonistin Victoria. Die feministische Bewegung war zwar nicht ganz so einflussreich wie in Argentinien – dennoch galten Chilenische Frauen als emanzipierter als in den Nachbarländern. Sie organisierten sich selbständig, führten einen regen Austausch mit Gleichgesinnten in den Nachbarländern und kämpften vor allem für drei Ziele: Die Anerkennung der intellektuellen Fähigkeiten der Frau, das Recht am öffentlichen Leben und der Politik teilzunehmen, und das Recht, einen Beruf zu haben und eigenes Geld zu verdienen.
Auch Tabuthemen wurden nicht gescheut – vor allem die Sexualität betreffend, über die man in der Öffentlichkeit eigentlich nicht sprach: Die Vermeidung von Geschlechtskrankheiten wurde ebenso diskutiert wie mögliche Verhütungsmittel.
Anders als in Santiago, wo die Gesellschaft in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts manche Umbrüche und einen sozialen Wandel erlebte, waren in der Atacama-Wüste Reformen kaum durchsetzbar. Von dort wanderten sowohl Arm als auch Reich ohnehin bald wieder ab: Nachdem es während des 1. Weltkriegs Wissenschaftern gelang, Nitrat künstlich herzustellen, gerieten viele der Unternehmen in Krisen und Arbeiter wurden scharenweise entlassen. In der Wüste wurde es wieder einsam – während die Bevölkerungszahl in Santiago weiter explodierte und bald die Millionengrenze überschritt.