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Die Hamburger Weiße Rose

So vertraut ich mit der Geschichte von Sophie und Hans Scholl, Alexander Schmorell, Kurt Huber, Christoph Probst und so viele andere mehr war, die ich als nichts Geringeres als die Helden meiner Jungend bezeichnen möchte – lange war mir nur vage bekannt, dass die Münchner Widerstandsbewegung in Hamburg ihre Fortsetzung fand.

Hans und Sophie Scholl

Das änderte sich, als ich vor einigen Jahren im SPIEGEL ein Interview mit Traute Lafrenz las, einer ehemalige Schülerin an der Hamburger Lichtwarkschule und Mitglied jenes Lesekreises, den ihre Lehrerin Erna Stahl initiierte, nachdem sie wegen fehlender nationalsozialistischer Gesinnung entlassen wurde. Im privaten Rahmen unterrichtete sie ihre ehemaligen Schüler weiterhin in Literatur, Kunstgeschichte und Philosophie. Ab 1938 studierte Traute Lafrenz in München, und dort machte sie die Bekanntschaft von Hans Scholl und dessen Widerstandskreis. Als sie später ein Praktikum an einer Hamburger Klinik machte, brachte sie das 3. Flugblatt der Weißen Rose in ihre Geburtsstadt mit.

Das 3. Flugblatt der Weißen Rose

Erst präsentierte sie es nur im kleinen Kreis: Ende des Jahres 1942 las Traute Lafrenz es ihren ehemaligen Mitschülern in der Buchhandlung „Agentur des Rauhen Hauses“ am Jungfernstieg vor, die sich dort regelmäßig zu Leseabenden trafen. Doch daraus entwickelte sich rasch eine Widerstandsbewegung, der sich viele weitere Personen anschlossen: ob regimekritische Buchhändler wie Felix Jud und Reinhold Meyer, ob das sogenannte Musenkabinett, bestehend aus Künstlern und Intellektuellen, ob jene Ärzte und Medizinstudenten des Klinikums Eppendorf, die sich als “Candidates of Humanity” bezeichneten, ob einzelne Familien wie die Familie Leipelt. Letzterer gehörte auch Hans Leipelt an, ebenfalls ein Hamburger, der in München studierte und dort die Geschwister Scholl und ihren Kreis kennenlernte, und der nach deren Hinrichtung im Februar 1943 in den Besitz des sechsten Flugblatts kam. Zunächst verteilt er es – mit dem Zusatz „Und ihr Geist lebt trotzdem weiter“ versehen – in München, später gemeinsam mit Gleichgesinnten in Hamburg. Heinz Kucharski – ein ehemaliger Lichtwarkschüler und Klassenkamerad von Traute Lafrenz – schaffte es sogar, es in die Schweizer Botschaft zu schmuggeln, von wo aus es seine Reise nach England antrat. Als “Manifest der Münchner Studenten” wurde es im Herbst 1943 tausendfach von britischen Flugzeugen über Deutschland abgeworfen.

Heinz Kucharski und Traute Lafrenz

Dass über die Hamburger Weiße Rose weitaus weniger bekannt ist als über ihr Münchner Vorbild liegt wohl in erster Linie daran, dass es keine festgefügte Gruppe mit klar formulierter Zielsetzung war – eher eine lose, auch etwas unübersichtliche Gruppierung von Freunden und Kollegen, die selbst nie auf die Idee gekommen wären, sich so zu bezeichnen, obwohl sie in der Geschichtsforschung so genannt werden.
Was sie jedenfalls alle geeint hat, war die Liebe zur Literatur und das Festhalten an humanistischen Bildungsidealen.
Den Preis, den sie dafür zu zahlen hatten, war sehr hoch. Über achtzig an diesem Kreis beteiligte Personen wurden verhaftet, nachdem die Gestapo im Sommer 1943 einen Spion eingeschleust hatte, fünfzig vor Gericht gestellt, mehrere von ihnen verloren ihr Leben.
Auch Erna Stahl wurde verhaftet und des Hochverrats angeklagt – sie hätte die ihr anvertrauten Jugendlichen „im staatsfeindlichen Sinne verführt“ –, und dass sie nicht zu Tode verurteilt wurde, war allein der Tatsache zu verdanken, dass der Krieg vor der Gerichtsverhandlung zu Ende ging und sie von den amerikanischen Truppen befreit wurde.
Nach dem Krieg arbeitete sie weiterhin als Lehrerin – sie war die Gründerin der Albert-Schweitzer-Schule Hamburg, der ersten kooperativen Gesamtschule -, und sie machte sich immer wieder dafür stark, den Mitgliedern der Weißen Rose zu gedenken. So betonte sie in einer Rede: „Solche Menschen hat es gegeben, auch in der Zeit tiefster und hoffnungslosester Verlorenheit. Zu ihnen hinzublicken in heißer Dankbarkeit dafür, dass es sie gab, dass sie durch die Unbeirrbarkeit und Lauterkeit in einer Zeit der Lüge das Bild des Menschen retteten, ist unsere Ehre.“

Erna Stahl

Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, mit meinem Zweibänder an diese Menschen zu erinnern. Selbige hat mich allerdings nicht nur mit großem Respekt erfüllt, auch mit gewissen Skrupeln. Trotz allem ist dieses Buch ein Roman, kein Sachbuch, und ein solcher lebt nicht nur von der Rekonstruktion historischer Ereignisse, auch von starken Gefühlen, Dramatik, Liebesgeschichten. Das Letzte, was ich aber wollte, war, die Lebensgeschichten der Mitglieder der Hamburger Weißen Rose leichtsinnig zu verbiegen und sie mir auf eine zu übergriffige Art anzueignen. Von daher habe ich mich relativ früh dazu entschlossen, dass ich ihre Geschichte vor allem aus der Perspektive fiktiver Protagonisten erzählen würde, d.h. die realen Ereignisse und zeitlichen Abläufe zwar so akkurat wie möglich darstellen, die historischen Persönlichkeiten aber nur am Rande auftauchen lassen würde. Überdies habe ich ihnen – das gilt insbesondere für Erna Stahl – vorzugsweise solche Worte in den Mund gelegt, die sich anhand von späteren Reden oder Zeugenaussagen rekonstruieren lassen.
Am Ende war im Übrigen nicht nur meine Scheu, die Biographie dieser Menschen unnötig zu trivialisieren, ausschlaggebend für diese Entscheidung. Überdies ging es mir weniger darum, einzelnen Widerstandskämpfern ein Denkmal zu setzen, sondern vielmehr das geistige Fundament darzustellen, das die Voraussetzung für diese Bewegung war. Um Widerstand zu leisten, bedarf es m.E. nämlich nicht nur den starken Willen dazu – sondern ein eben solches. Und dieses Fundament ist nichts, was einfach vom Himmel fällt, sondern was man sich – Ziegelstein um Ziegelstein – erarbeiten muss: Durch intensive Lektüre anspruchsvoller Bücher, durch Austausch und Diskussion, durch die Bereitschaft, sich stetig weiterzubilden und den Intellekt herauszufordern.
Das korreliert wiederum mit meiner tiefen Überzeugung, dass Literatur, humanistische Bildung und eine Pädagogik, die das Kind und seine Bedürfnisse von Kleinauf würdigt, der beste Impfstoff gegen Nationalismus, Rassismus und Menschenverachtung sind.

Gedenktafel an der Agentur des Rauhen Hauses

Während des Schreibens habe ich mich oft an eine alte Dame erinnert, die ich vor nunmehr über zwanzig Jahren während meines Volontariats am Holocaust Memorial Museum in Washington kennengelernt habe. Sie war eine Wiener Jüdin und Lehrerin, die in den 30er-Jahren emigrieren musste, die aber – nicht zuletzt aufgrund dieser Erfahrung – nie aufgehört hat, mit Leidenschaft zu unterrichten und sich unermüdlich für die Bildungschancen sozial schwacher Kinder einzusetzen. Ich kann mich leider nur mehr an ihren Vornamen erinnern – Maria –, aber ich fühle es bis heute deutlich, wie die damals über 90jährige meine Hand fest drückte. „Vergessen Sie niemals“, sagte sie mir, nachdem ich ihr anvertraut hatte, Lehramt zu studieren. „Bildung ist das Allerwichtigste.“
Schon damals hätte ich diesen Satz nicht abgestritten, aber er war mir in seiner ganzen Tiefe und Tragweite noch nicht bewusst, zumal ich gerade beschlossen hatte, doch nicht als Lehrerin zu arbeiten, sondern einen anderen Berufsweg einzuschlagen. Mittlerweile weiß ich, dass man auch als Schriftstellerin eine Art (Geschichts-)Lehrerin ist …