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Making-of “Das Lied des Waldes”

Seit frühester Kindheit kenne und liebe ich Spaziergänge im Wald. Auch als ich vor über zwanzig Jahren von Österreich nach Frankfurt übersiedelte, war es mir immer wichtig in der Nähe von Wäldern oder zumindest Bäumen zu leben: So war wesentliches Entscheidungskriterium für eine neue Wohnung weniger der Grundriss, sondern der Blick vom Schlafzimmer auf eine Blätterwand.
Doch obwohl ich Historikerin bin – mit der Geschichte des Waldes habe ich mich nie richtig beschäftigt. Erst vor zwei Jahren stieß ich auf eine faszinierende Begebenheit aus dem Hochmittelalter, von der bald wusste: Das wird das Thema meines nächsten Romans.

Der Nürnberger Reichswald umgibt die Stadt Nürnberg wie ein Schutzmantel von drei Seiten. Das Pegnitz-Tal trennt ihn in zwei Hälften – den Sebalder Forst und den Lorenzer Forst.
Von kaum einem anderen Wald wurde die Geschichte so gründlich erforscht; um keinen wurde so viel gestritten. Die Bemühungen, ihn zu schützen, begannen früh, doch seiner systematischen Ausbeutung wurde erst spät entgegengesteuert, weswegen er sich bis heute großteils in einem verheerenden Zustand befindet. Zugleich hat die moderne Forstwirtschaft an keinem Wald so viel gelernt – ist er doch in gewisser Weise die Wiege von selbiger. Und das hat mit besagtem Ereignis im Mittelalter zu tun.

Nürnberg wurde Im Jahr 1050 gegründet und stieg bald zu einer mächtigen Stadt auf. Im 14. Jahrhundert überflügelte sie Regensburg endgültig als Wirtschaftsmetropole und war nun das oberdeutsche Zentrum für Handel, Gewerbe und Finanz. Zu verdanken war das einerseits zahlreichen Zoll- und Handelsvergünstigungen, andererseits Handelsbeziehungen in die ganze Welt – nach Norditalien ebenso wie nach Belgien, Holland oder Ungarn. Triebfedern für das fulminante, wirtschaftliche Wachstum von Nürnberg waren insbesondere seine einflussreichen Patrizierfamilien, die sich mit dem Kaiser zwar gerne gut stellten, aber möglichst unabhängig agieren wollten.

Nicht nur Nürnbergs Einfluss und Macht wuchsen im Laufe des Mittelalters, auch die Bevölkerung. Die Stadt, die vom Fluss Pegnitz in zwei Hälften geteilt wurde – die Lorenzer und die Sebalder Seite – vergrößerte sich stetig. Entsprechend viel wurde auch gebaut: Häuser ebenso wie die Stadtmauer und ihre Türme. Eines der notwendigen Materialien hierfür war der Burgsandstein, der aus den Steinbrüchen in der Umgebung stammt. Die wichtigsten lagen in der Nähe des heutigen Schmausenbuck, einem Gebiet, das immer noch von den tiefen Schluchten gekennzeichnet wird.

Doch ein noch wichtigerer Rohstoff war Holz: Allein ein Fachwerkhaus verschlang siebzig bis hundert Bäume. Auch abgesehen von der Bautätigkeit gab es kaum ein Gewerbe, das damals keinen enormen Holzbedarf hatte: Man brauchte Rinden zum Gerben von Leder, Holzasche zur Glasherstellung, Kiefern- und Fichtenharz, um daraus Pech für Fassmacher und Schuster zu machen, und Holzkohle für die aufblühende Metallindustrie. Dass man den Nürnberger Reichswald schon damals systematisch ausbeutete, entsprach dem Verständnis von Wald – galt er doch nicht länger als ungezähmte Wildnis, sondern als Forst, der dem Hoheitsgebiet eines Grundherrn unterstand, von diesem verwaltet, geformt und eben auch benutzt werden konnte. Dass der Wald nicht mehr als terra nullius – als gefährliches Niemandsland, in das man besser nicht seinen Fuß setzte – wahrgenommen wurde, zeigte überdies eine andere Begebenheit: Schon 1372 wurde die Buchenklinge im Lorenzer Reichswald zu einem beliebten Erholungsort. In der Nähe der dortigen Quelle, die eine steinerne Fassung erhielt, ließ der Nürnberger Rat Steintische, Bänke und eine Kegelbahn aufstellen. Bis heute kann man die Spuren der ersten „Walderholungseinrichtung“ überhaupt sehen.

An der Erholung im Wald war die Nürnberger Patrizierfamilie Stromer wohl nicht interessiert, eher schon an der Erholung des Waldes. Ihr Handelshaus war eines der größten und bedeutendsten Wirtschaftsunternehmen der damaligen Welt. Ihm angeschlossen waren Berg-, Metallhütten- und Hammerwerke – allesamt Wirtschaftszweige, die von einer nachhaltigen Holzversorgung abhängig waren. Und anders als bei seinen Zeitgenossen wuchs in Peter Stromer, der im 14. Jahrhundert nicht nur Anteilseigner des Handelshauses, auch Nürnberger Ratsherr war, das Bewusstsein dafür, dass das Holz nicht ewig reichen würde. Er erkannte, dass der Wald kein „Selbstbedienungsladen“ war, und darum wagte er 1368 ein ebenso außergewöhnliches wie bahnbrechendes Experiment: auf mehreren hundert Morgen des Reichswaldes wurden umfangreiche Versuche einer planmäßigen Forstkultur unternommen. D.h. zum ersten Mal in der Geschichte wurden Bäume bzw. ein Wald gezielt gepflanzt, indem man die Samen von Kiefern und Tannen sowie wahrscheinlich auch von Fichten und Laubhölzern säte.
Der Ort dieser erster Waldsaat bzw. des ersten Kunstforstes der Geschichte war Lichthof – heute ein Stadtteil von Nürnberg. Dass sich in Garten des Hummelsteiner Schlosses gleich in der Nähe heute ein botanischer Park mit zahlreichen Baumarten befindet, ist vor diesem Hintergrund sehr passend.

Peter Stromer war allerdings nicht der einzige innovative Kopf in der Familie – auch der Name seines Bruders Ulmann ist mit einem Paukenschlag der abendländischen Zivilisation verknüpft. Was diesen umtrieb war nicht Mangel an Holz – aufgrund der zunehmenden Verbreitung von Schreib-, Lese- und Rechenkünsten, der dichteren Vernetzung von europäischem Handel und Fürstenhöfen sowie der Einführung von Giralgeld herrschte nämlich auch ein Mangel an Schreibmaterial. Pergament war sehr aufwändig und teuer in der Herstellung, aber seit geraumer Zeit war eine neue, billige Alternative im Umlauf: Papier. Ulmann erkannte dessen Potenzial, und darum gründet er 1390 die erste Papiermühle nördlich der Alpen, die sogenannte Hadernmühle an der Pegnitz – die Voraussetzung für Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks etwa ein Jahrhundert später.

Was damals noch nicht absehbar war: Seit der Erfindung des Holzschnitts im 19. Jahrhunderts ist der Wald die entscheidende Ressource für die Papierherstellung. Fast jeder fünfte gefällte Baum wird weltweit zu Papier verarbeitet, insbesondere in Deutschland ist der Papierbedarf enorm, und die Papierherstellung stellt eine große Belastung für den Wald dar, der aufgrund naturferner Bewirtschaftung und den Folgen des Klimawandels ohnehin schon genug zu leiden hat. Das, wofür die beiden Brüder standen – der eine wollte für mehr Wald sorgen, der andere für mehr Papier –, hat sich im Laufe der Geschichte also als unversöhnlicher Gegensatz erwiesen.
Zugleich muss man hinzufügen, dass Peters gute Absichten schlimme Folgen zeitigten: Denn es war nicht zuletzt die künstliche Waldsaat, die großflächige Monokulturen hervorgebracht hat, und die sind weitaus anfälliger für Waldbrände, Sturmschäden und Insektenkalamitäten. Der Nürnberger Reichswald wurde insofern Symbol für einen recht zerstörerischen, ja übergriffigen Umgang des Menschen mit der Natur – nur wenige Waldstücke dort sind halbwegs naturbelassen, so Irrhain bei Kraftshof.

Je tiefer ich in die Geschichte des Waldes und auch der Familie Stromer eingetaucht bin, desto mehr nahm die Geschichte Gestalt an. Bald war klar, dass ich sie aus weiblicher Perspektive erzählen wollte und Ulmann Stromers älteste Tochter Anna zu meiner Protagonistin machen würde. Im Buch wird gleichsam sie die Stimme des Waldes. Da sie ihn über alles liebt, will sie ihn schützen, gleichwohl ist sie nicht davor gefeit, manch Fehlentscheidung zu treffen. Auf ihren Spuren war ich nicht nur in Nürnberg und im Nürnberger Reichswald unterwegs – es verschlug mich auch ins Örtchen Heroldsbach. Denn Anna Stromer war mit Sebald Vorchtel verheiratet, der aus einer anderen bedeutenden Nürnberger Patrizierfamilie stammte. Wie eine alte Steintafel beweist, hat sie in Heroldsbach ein Rittergut besessen – und Anna hat hier einige Jahre ihres Lebens verbracht.

Und ein weiterer Ort ist für Anna und Sebalds Geschichte von Bedeutung – wenn auch sehr trauriger Natur: Hilpoltstein im Südosten von Nürnberg. Eine Burgruine verweist auf die große Geschichte des Orts im Hochmittelalter. Eine Rolle spielte sie auch in Städtekrieg Ende des 14. Jahrhunderts, in dem auch Nürnberg involviert war … und meine Protagonisten.

Doch ich erzähle nicht nur die Geschichte der ersten Waldsaat bzw. der ersten Papiermühle im Mittelalter. Die Vergangenheitsebene ist eng verknüpft mit einem Handlungsstrang in der Gegenwart. In dessen Mittelpunkt steht die Förstertochter Veronika, die ihr Elternhaus im Nürnberger Reichswald vor vielen Jahren hinter sich gelassen hat, nun aber, mitten in einer Lebenskrise, dorthin zurückkehrt. Die Einsamkeit ist ihr nach nachjahrelangem Großstadtleben fremd, die Begegnung mit ihrer einstigen Jugendliebe – dem Forstbeamten Martin – reißt alte Wunden wieder auf. Und doch wird auch sie langsam empfänglich für das „Lied des Waldes“. Recherchen für diesen Handlungsstrang haben mich nicht nur in den Nürnberger Reichswald geführt, sondern u.a. zur Massendorfer Schlucht in der Nähe von Spalt, einem Ort im Fränkischen Seenland. Sie hat sich tief in den Sandstein eingegraben, und es führen einige Wanderwege hindurch.

Wie die meisten der Fotos zeigen, habe ich einen Teil meiner Recherchereise während einer unwirtlichen Zeit gemacht – während eines Wintereinbruchs rund um Ostern nämlich. Insofern kann ich sagen, dass ich mir den Nürnberger Reichswald nicht nur auf langen Märschen „ergangen“ habe, sondern in gewisser Weise auch „erfroren“. Doch das bedeutet nicht zuletzt, dass ich oft über Stunden auf keine Menschen traf, ich den Wald folglich auf eine sehr ursprüngliche Weise entdecken durfte und aus meiner jahrelangen Freundschaft eine echte Liebesbeziehung geworden ist.