Bis weit ins Mittelalter hinein hatte die Musik im christlichen Abendland nur einen Zweck: von der Herrlichkeit Gottes zu künden. Doch im 12. Jahrhundert fand das Liebeslied, in dem die Liebe zwischen Mann und Frau, ob geistiger oder körperlicher Natur, besungen wurde, auch hier Verbreitung – womit das Zeitalter des Minnesangs eingeleitet war.
Es ist zwar nahezu unmöglich, die Erfindung des Liebeslieds an einem bestimmten Datum festzumachen – am Ende gleicht das Liebeslied einem Parfüm aus unendlich vielen Duftessenzen, die sich zu stark verwoben haben, um einzelne Ingredienzien herauszupicken. Doch allen Theorien über die Wurzeln der europäischen Liebeslyrik gemein ist die Vorstellung, dass sie maßgeblich von den südfranzösischen Troubadouren des 11. und 12. Jahrhunderts beeinflußt wurde. Umstrittener ist in der Forschung, woher diese den Impuls dafür bekamen.
Dass sie sich vom Gregorianischen Choral oder der lateinischen Dichtung inspirieren ließen, ist eine These. Eine andere – weitaus besser begründete – legt den Ursprung in den nicht-europäischen, islamischen Kulturkreis, wo das Liebeslied zu diesem Zeitpunkt schon seit Jahrhunderten in Mode war.
Kontakte mit diesem Kulturkreis gab es dank der Nachbarschaft zum maurischen al-Andalus auf der iberischen Halbinsel viele, und diese leiteten eine neue Blütezeit des christlichen Abendlands ein – insbesondere in Südfrankreich spricht man von der „Ersten Renaissance“.
Jenes Ereignis, das am stärksten dafür steht, dass ein brutaler „clash von civilizations“ immer auch zur kulturellen Befruchtung führen kann, ist die Eroberung von Barbastro im Jahr 1064.
Damals drang ein christliches Heer auf Wunsch des Papstes tief ins maurische al-Andalus ein, eroberte die Stadt und brachte reichen Beute nach Hause, darunter auch zahlreiche qiyan (Einzahl qayna) – legendäre Sängerinnen, die über ein Repertoire von tausenden von Liebesliedern verfügten.
Ihre Talente und Fähigkeiten fielen am Hof von Herzog Guillaume IX. von Aquitanien (dem Großvater der berühmten Aliénor) auf fruchtbaren Boden: Nicht zuletzt unter Einfluss seiner Frau Philippa, die viele Jahre ihres Lebens am hochkultivierten Hof von Aragon verbrachte und als Tochter des Grafen von Toulouse mit der klangvollen Sprache des Langue d’oc aufwuchs, wurde Guillaume zum ersten Troubadour des Abendlands, der Gedichte in der romanischen Sprache über Liebe, Sexualität und generell recht differenzierte Gefühlslagen verfasste.
Das Liebeslied fand bald an allen Höfen Europas Verbreitung und ermöglichte die Karrieren großer Minnesänger wie die eines Walthers von der Vogelweide. Nicht nur, dass es die Literatur- und Musikgeschichte sowie den Blick auf zwischenmenschliche Beziehungen für immer verändert hat. In einer Epoche, die von Glaubenskriegen, Fanatismus und Machtkämpfen gekennzeichnet ist, verkündete es eine zeitlose Botschaft: Mit der Macht der Musik und der Liebe lassen sich die tiefsten Gräben überwinden und die höchsten Mauern einreißen.
Zugleich steht es dafür, dass kulturelle Errungenschaften zwar etwas Dauerhaftes, aber nichts Gleichbleibendes sind. Nie hat ein kein starres Korsett, die strikte Abgrenzung die Kunst vorangebracht: Sie verdankt sich den Prinzipien der Veränderung und Durchmischung und blüht immer dort, wo sich unterschiedlichste Kulturen in einem Schmelztiegel wiederfinden.